Gedanken zu »Grenze«

Text: Rosi Grieder-Bednarik

Grenzlich

Es gibt Grenzen und Grenzen.
Die eine ist eine künstliche, oft gewaltsame, willkürlich von einer fremden Macht aufgezwungene und mit Waffengewalt verteidigte Begrenzung.
Die andere liegt in der Natur begründet. Das größte Organ des Menschen, die Haut, grenzt den Körper, sein Inneres, sein Ich, ab von der Welt. Aus seiner Haut kann er nicht heraus. Auch nicht aus seinem Kopf.
Liegt darin begründet, dass Menschen sich selbst und anderen zusätzlich Grenzen setzen, und dass sie sich innerhalb ihrer Grenzen sicher fühlen? Brauchen, wünschen Menschen sich deshalb sichtbare und fühlbare Grenzen  – wie konzentrische Kreise?
Weshalb ist oft das erste, was Grundbesitzer errichten, ein Zaun?
Und gleichzeitig: Mit dem Nachbarn zu plaudern über den Gartenzaun hinweg hat etwas „Heimeliges“.  Zwar Auge in Auge, aber doch mit einer kleine Barriere dazwischen.
Wir leben in einem Dilemma zwischen Öffnung und Rückzug.
Wir genießen die Spannung zwischen sich Hingeben und sich Verweigern. Wir pendeln zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit.
Deshalb ist wohl auch all jenen Projekte, die „die Grenzen (in den Köpfen) ABbauen wollen“ in Wirklichkeit kein Erfolg beschieden.
Sie müssten im Gegenteil auf dem Vorhandensein von Grenzen AUFbauen. Denn das Positive ist, dass es etwas Schönes, Befreiendes und Erhebendes ist, Grenzen, die es immer geben wird, zu überwinden, zu überschreiten, hinter sich zu lassen.

Grenzseitig

Diesseits und jenseits der Grenze: auf der einen Seite das Vertraute, auf der anderen das Fremde. Verlockend und beängstigend zugleich. Die menschliche Neugierde herausfordernd.
Nichts ist spannender, als das Ungewohnte, das Ungewöhnliche, das Fremde kennen zu lernen, sich darauf einzulassen. Dazu muss man sich selbst überwinden, Misstrauen abbauen, innere Widerstände außer Acht lassen, Ängste beiseite schieben, Vorurteile vergessen – welch eine Befreiung!
Was jedoch, frage ich mich, bewegt einerseits viele Menschen heute, „Grenzerlebnisse“ – extreme, ja manchmal lebensgefährliche Situationen, z.B. im Sport, beim Reisen – auszukosten, andererseits aber daheim, in der U-Bahn es nicht zu wagen, sich neben einen Schwarzafrikaner zu setzen, geschweige denn, mit ihm ein Gespräch anzufangen?
Was lässt sie vergessen, dass auch sie für andere immer Fremde sind, diesseits oder jenseits der Grenze, je nachdem von welcher Seite aus betrachtet?

Grenzfluss

Ich wohne seit mehr als 30 Jahren an einer Grenze, die lange Zeit – abweisend, dicht und undurchdringlich – als „tote Grenze“ bezeichnet wurde. Die Grenzöffnung zwischen Ost und West – im Fall der Stadtgemeinde Hardegg eigentlich zwischen Nord und Süd – hat sowohl Erleichterung, Befreiung, Begeisterung, aber auch Angst und Ernüchterung ausgelöst.

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Eine Generation lang lebten die Menschen an der Thaya so, als wäre jenseits des Flusses die Welt zu Ende. Niemand verspürte den Wunsch, in die deprimierende Realität des benachbarten Ostblockstaates Tschechoslowakei mit seinen grauen Siedlungen und der Willkür eines kommunistischen Regimes zu fahren. Die drohende Nähe des in den 50er Jahren errichteten Eisernen Vorhangs mit Wachtürmen und Bunkeranlagen wirkte abschreckend, obwohl diese Einrichtungen – unter der Parole „Schutz vor dem Imperialismus“ – gegen die tschechoslowakische Bevölkerung gerichtet waren. Die österreichischen Bewohner der Grenzregion wandten sich ab und vergaßen, was Südmähren und das Waldviertel einst verbunden hatte. Die Region fiel in einen Art „Winterschlaf“ und litt unter ihrer Randlage, wirtschaftlich, strukturell, demographisch. Dazu kamen die Ressentiments aufgrund der Vertreibungen am Ende des 2. Weltkrieges.
Die Hardegger Schulkinder fragten einmal ihre Lehrerin: „Wie schauen die Leute da drüben eigentlich aus?“ – als würde es sich um Bewohner eines fernen Kontinents oder gar eines anderen Sternes handeln. Es war ihnen nicht bewusst, dass es verwandtschaftliche Beziehungen gab, ja, dass manche von ihnen vielleicht sogar tschechisches Blut in den Adern hatten.
Es war einmal, erfuhren sie dann bei einem grenzübergreifenden Schulprojekt gemeinsam mit tschechischen Volksschulkindern, vor langer Zeit, da war die Thaya einfach nur ein Fluss und keine trennende Grenze. In der Kaiserzeit bis zum 1. Weltkrieg gab es enge Beziehungen zwischen den Menschen, man trieb Handel, besuchte Kirtage, verheiratete sich. 1884 wurde die Straße Hardegg–Znaim fertig. Die Tschechen kamen zur Sommerfrische „in den Süden“  ins Waldviertel nach Hardegg, wo sie sich mit den Wiener Ausflüglern trafen, die „in den Norden“ reisten. Zur Hochblüte der Sommerfrische beherbergte jedes Haus in Hardegg Sommergäste, 1913 waren es an die 2000. Ein prominenter Gast, Viktor Kaplan, wohnte 1920 beim Perlmuttfabrikanten Mathias Artmann, der danach innovativ seine Maschinen zur Knopferzeugung durch eine Kaplanturbine antreiben ließ.
1918 wird mit der Gründung der ČSSR die Verwaltungsgrenze zur Staatsgrenze. Viele der heute tschechischen Dörfer stimmen damals ohne Erfolg für den Anschluss an Österreich. Die Hardegger Bauern dürfen zwar weiter ihre Felder am nördlichen Flussufer bestellen, die Grenzbrücke jedoch ist durch tschechisches Militär gesperrt. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Südmähren im Oktober 1938 wird die Grenze wieder Vergangenheit, man fährt aufs Neue mit dem Omnibus nach Znaim zum Einkaufen, ins Spital, in die Schule. In der gesamten Region beider Länder gewinnen die Nationalsozialisten an Macht (NSDAP/SdP) – mit den geschichtlich bekannten Folgen. Bei Kriegsende 1945 kommt es zur Grenzziehung von 1919 und zu der von den Alliierten abgesegneten Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung. Die Bewohner von 10 südmährischen Dörfern, ca. 3000 Menschen, müssen ihre Heimat über die Hardegger Brücke verlassen. 45 Jahre lang bleibt die Grenze geschlossen, der Bretterboden der Brücke abmoniert.
Jenseits
Auch die tschechische Bevölkerung wird damals umgesiedelt, die Höfe in den Grenzdörfern werden oftmals an Soldaten übergeben, die gerade von der Front kommen. Viele verstehen nichts von der Landwirtschaft, sie bewohnen die Häuser, bis sie verfallen, dann ziehen sie weiter. Heute noch sind an den Lücken in den Straßendörfern erkennbar, wo Bauernhäuser verödeten.
In Tschechien erleidet die Bevölkerung nach dem 2. Weltkrieg die Zwangskollektivierung und die Aufhebung des Privateigentums. Bei der Gründung der Kooperative von Stary Petrin müssen 1950 alle Bauern ihr Vieh abgeben, die Felder werden zusammengelegt und gemeinsam bewirtschaftet. Das Wirtschaftsergebnis ist schlecht, die 57 Mitglieder der Einheits-Landgenossenschaft erhalten für ihre Arbeit kein Geld, sondern werden in Naturalien bezahlt. Den 15 Bauern, die daraufhin wieder austreten, werden untragbar hohe Lieferungen an Getreide, Fleisch, Milch und Eiern abverlangt, zusätzlich werden sie der Sabotage beschuldigt und bestraft, sodass bis 1957 wieder alle der ELG beitreten. Zur Arbeit auf den grenznahen Felder benötigt man einen speziellen Ausweis. Die Grenze wird immer weiter ins Land hinein verlegt, zuletzt nimmt der breite Todesstreifen entlang der tschchischen Grenze 1% der Gesamtbodenfläche der ČSSR ein.
Mit der Zeit gewöhnen sich die Bauern an die geregelten Arbeitszeiten von 6–14 Uhr, zur Erntezeit bis 18 Uhr, sodass nach der Wende nur wenige Lust haben privat zu wirtschaften. Diejenigen, die es versuchen, erhalten nicht ihre eigenen Felder zurück, sondern schlechtere Böden in Randlagen, sie kämpfen heute ums Überleben. 1990 wird die ELG in Starý Petřín privatisiert, sie wird als landwirtschaftliche Farm mit 38 Beschäftigten betrieben, nur in Nový Petřín gibt es noch zwei selbstständige Bauern. Die Häuser sind wieder im Privatbesitz, es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass jemand sein enteignetes Haus vom Staat zurückkaufen musste.
1989 – dem Jahr der Wende – als der Eiserne Vorhang fällt, balancieren die Menschen aus Freude über die gewonnene Freiheit über das nackte Eisengerüst nach Österreich.

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1990 ist der Bodenbelag hergestellt und die Grenzstation an der Brücke für Radfahrer und Wanderer geöffnet. Heute, nach der Öffnung von drei weiteren Übergängen an alten Straßenverbindungen, erschließt sich in der Grenzregion ein weitläufiges Rundwander- und Radtourennetz.
Seit 2004, dem Beitritt Tschechiens zur EU, gibt es viele Kooperationen zwischen den Nachbarländern, von kleinen grenzübergreifenden Kunst- und Kulturprojekten bis zur Zusammenarbeit im großen Rahmen, wie z.B. die Beteiligung des (Inter)Nationalparks Thayatal/Podyji am Projekt Green Belt. Das „Grünen Band“ zieht sich an den ehemaligen Ostblockgrenzen 6.800 km quer durch ganz Europa. Man hat schnell erkannt, dass die Natur wohl als einzige von der „toten Grenze“ profitiert hat, und versucht ihre Unberührtheit zu erhalten. Ein anderes laufendes Projekt, (L)OST LINKS vom Verein zur phänomenologischen Grenzerfahrung in der Mitte Europas, versucht Ansätze für neue Nachbarschaften anzubieten.
Besuche ich heute als rund 60-jährige Österreicherin Südmähren, erlebe ich oft ein Déjà-vu, als wäre ich zurückversetzt in meine Jugend: Die Landschaft scheint vertraut, Wälder, Teiche, Alleen, Weingärten, Dörfer mit Anger, Hausfassaden mit alten Kastenfenstern und schönen Holztoren, bunte Bauerngärten, Felder begrenzende Raine, wie sie in Österreich erst wieder in den letzten Jahren aufgeforstet werden. Nur die riesigen Heuhaufen und fehlende Scheunen lassen erkennen, wie hier bäuerliche Güter produziert werden – nämlich immer noch fast ausschließlich in Großbetrieben. Die Verschandelung dörflicher Ensembles durch „moderne“ Fenster, hässliche Garagentüren oder unpassende Dachdeckungen blieben den tschechischen Dörfern großteils erspart, für die Dorferneuerung fehlte in den 80er Jahren einfach das Geld. Und man hat den Eindruck, dass heute die Renovierungen (vermutlich auch aufgrund der im Westen sichtbar begangenen Fehler) mit mehr Feingefühl durchgeführt werden.

Grenzüberschreitung

100 Volksschulkinder der Stadtgemeinde Hardegg und der Gemeinde Stary  Petrin waren für 2 Jahre an einem grenzüberschreitenden Projekt beteiligt, 2004 feierten sie zum Abschluss gemeinsam den EU-Beitritt der Tschechischen Republik mit einer Ausstellung und einem Fest. Unter dem Titel „Leben im Dorf – Dorf(er)leben“ erforschten die Kinder in 30 Interviews zu verschiedenen Themen das Leben ihrer Vorfahren in den Dörfern. Unter anderem erzählte eine österreichische Frau den Kindern von ihrer Vertreibung und dem Beginn eines neuen Lebens in Österreich. Gemeinsam mit den Kindern betrachtete sie auf alten Fotos Panzersperren und Stacheldraht und erinnerte sich, dass der Sandstreifen täglich gerecht wurde, um frische Fußspuren Flüchtiger sofort zu erkennen. Ein tschechischer Bauer berichtete, wie er nach Starý Petřín gekommen war und dort seine neue Heimat fand. Die Kinder erfuhren bei ihren Interviews viel von der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung in beiden Ländern; vom Alltagsleben und der Freizeitgestaltung ihrer Großeltern; von den Festtagen und Bräuchen, die in beiden Ländern kaum voneinander abweichen und bis heute gleich geblieben sind: Maibaumaufstellen, Faschingstreiben, Osterratschen; und von den Hoffnungen und Ängsten der Menschen, als es darum ging der EU beizutreten. Das Misstrauen war auf beiden Seiten der Grenze gleich hoch. Man sollte meinen, die Leute im Grenzland hätten sehnsüchtig darauf gewartet, endlich ohne territoriale Einschränkungen leben zu können. Doch bei den Volksbefragungen zum EU-Beitritt war sowohl in Österreich als auch in Tschechien der Prozentsatz der Nein-Stimmen in den Grenzgemeinden beider Länder der höchste, oft über 90 %.
Auf beiden Seiten herrscht teilweise heute noch die irreale Angst vor Kriminalität, die Furcht vor Gaunern und Dieben – und bei jedem entsprechenden Delikt werden zuerst „die anderen“ verdächtigt. Ebenso irreal – meinen alle im jeweils anderen Land günstigere Einkaufsmöglichkeiten zu finden und nützen den freien Grenzverkehr. Vielleicht erliegen Tschechen immer noch dem Glanz „westlicher“ Waren, während Österreicher auf niedrige Preise spekulieren. Beides hat sich mit der Zeit jedoch angeglichen und wird nur mehr in den Köpfen unterschiedlich wahrgenommen.
Alle Grenz-Gemeinden, tschechische wie österreichische, kämpfen mit den gleichen Problemen: Abwanderung, Überalterung, Mangel an Arbeitsplätzen. Kleingewerbe und Handel sind fast ausgestorben. Jungen Menschen fehlt die Zukunftsperspektive, für eine bessere Ausbildung müssen sie lange Wegzeiten und schlechte Verkehrsverbindungen in Kauf nehmen. Allerdings wurde erkannt (in Tschechien früher, in Österreich etwas später), dass das Erlernen der Sprache des Nachbarlandes ein Vorteil ist. Die Sprachbarriere, die beim Schulprojekt „Leben im Dorf“ 2002 noch ein großes Hindernis war, wird hoffentlich mit der Zeit geringer: jetzt wird den Kindern schon in der Schule und im Kindergarten ein Unterricht der Nachbarsprache angeboten.
Alte Menschen, die beide Sprachen beherrschen, gibt es kaum noch, die meisten sind verstorben. Die kommende Generation jedoch wird sich hoffentlich wieder besser verstehen, ohne Ängste und Vorurteile aufeinander zugehen, und den Kontakt zueinander über die Grenze hinweg pflegen.

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BrueckenfestDSC03268- 6989BrueckeHeute-Fotos aus dem von uns aufgebauten digitalen Bildarchiv historischer Fotos der Stadtgemeinde Hardegg: Hardegger Brücke – Absperrung Staatsgrenze;  Grenze mit Eisernem Vorhang; Panzersperren; Bunker; 1989: Tschechen beim Überklettern des Brückenskeletts (Foto Weitschacher);
Fischer an der Thaya; Hardegger Brücke heute; 2007: Brückenfest (Fotos von Herbert Bednarik)

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